Offener Brief zum Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München und Freising
Offener Brief zum Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München und Freising

Offener Brief zum Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München und Freising

Liebe Gemeinde,

im Folgenden finden Sie einen Brief des Diözesanratsvorsitzenden Prof. Dr. Hans Tremmel zur Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising.

An die ehrenamtlich Engagierten in den Pfarreien und Verbänden, insbesondere an die PGR-Vorsitzenden und Wahlausschuss-Vorsitzenden, zum Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München und Freising

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Schwestern und Brüder,

vieles von dem, was ich Ihnen jetzt schreibe, habe ich in den letzten beiden Wochen an verschiedener Stelle schon gesagt oder schriftlich formuliert. Auf unserer Homepage und in zahlreichen Zeitungen konnten Sie einiges davon bereits lesen. Mir ist aber dennoch wichtig, dass ich mich heute auch direkt an Sie wende, weil das Missbrauchsthema uns ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Weinberg des Herrn enorm aufwühlt und umtreibt. Außerdem möchte ich mit Ihnen einige speziell für Sie relevante Gedanken teilen.

Wie Sie bin ich bestürzt und entsetzt über die Inhalte des WSW-Gutachtens. Vor allem, wenn man die Taten in aller Abscheulichkeit selber dann noch einmal schwarz auf weiß nachliest, befällt einen das Grauen. Nicht nur als Theologe und Diözesanratsvorsitzender, sondern vor allem auch als Familienvater bin ich angewidert wegen der Verbrechen an Kindern und Minderjährigen. Als Ethiker weiß ich, dass nicht nur das Tun, sondern genauso das Unterlassen von Verantwortungsträgern rechtfertigungspflichtig ist. Und da müssen wir leider feststellen, dass die Institution, die für uns Heimat war und für viele weiterhin ist, auf ganzer Linie versagt hat. Die Verbrecher und ihre Taten wurden durch systemische und strukturelle Mängel geschützt bzw. begünstigt. Aufgrund der sog. MHG-Studie von 2018 dachte ich, dass mich die neue Studie nicht mehr so betroffen machen würde. Das Gegenteil ist der Fall, vielleicht weil es die eigene Diözese betrifft und viele Personen bekannt sind. Seit 2010 ist nicht nichts passiert im Hinblick auf Aufarbeitung, Prävention und zum Schutz von Minderjährigen, aber ganz offensichtlich doch zu wenig. Ehrlicherweise hätte ich nicht vermutet, dass selbst nach 2010 noch Fälle in unserer Erzdiözese auftauchen würden. Deshalb kann ich nur nachdrücklich postulieren: Nie wieder! Und nicht mit unserem Schweigen!

Das Multisystemversagen ist nicht mehr zu leugnen, zu verharmlosen und zu kaschieren. Konsequenzen müssen jetzt und nicht irgendwann gezogen und begonnen werden – Konsequenzen für die Betroffenen sexualisierter Gewalt und für die Kirche Jesu Christi insgesamt. Diese Konsequenzen werden wir nicht nur einfordern und beobachten, sondern wir werden sie auf all unseren verschiedenen Ebenen aktiv mitgestalten. Das Volk Gottes – Kleriker und Laien – ist nach wie vor bereit. Hier steht unser Erzbischof im Wort, der ja bei der letzten Vollversammlung des Diözesanrats erklärt hat, er wolle künftig ein synodaler Bischof sein. Dazu gehört aber auch eine synodale Diözese und eine synodale Verwaltung. Was das heißt, müssen wir alle freilich erst noch gemeinsam ausloten, erarbeiten und einüben. Der Begriff alleine genügt nicht, dafür ist zu viel geschehen.

Ja, trotz allem vertraue ich weiterhin diesem Erzbischof, weil ich Kardinal Marx seine tiefe Erschütterung und seine Reue über eigene Fehler sowie die Erkenntnis der systemischen Ursachen der Misere wirklich abnehme. Ich bin davon überzeugt, dass seine Bereitschaft, nun möglichst rasch konkrete Taten folgen zu lassen, kein billiges Lippenbekenntnis ist. Im Vorstand des Diözesanrats haben wir nach intensiven Debatten deshalb beschlossen, dass wir mit ihm weiter zusammenarbeiten und mit ihm, den anderen Gremien und allen sonstigen Verantwortlichen die Zukunft unseres Erzbistums gemeinsam gestalten wollen. Das ist nach allem Geschehenen und im Vergleich mit anderen Bistümern gewiss keine Selbstverständlichkeit. Als nächsten Schritt haben wir ein virtuelles Treffen noch vor der Diözesanratsvollversammlung mit dem Erzbischof und dem Generalvikar vereinbart und auch darüber hinaus sind wir in regem Austausch. Die Frühjahrsvollversammlung im März bietet dann die Gelegenheit, in einer breiteren Öffentlichkeit die Räte und Verbände in die aktuelle Diskussion einzubinden.

Dieser Vertrauensvorschuss ist kein Selbstläufer. Vom Reden und von den Gutachten müssen wir jetzt endlich zügig ins Tun kommen. Was brauchen Opfer sexualisierter Gewalt? Wie kann ihnen Gerechtigkeit geschehen? Wie können auch die Menschen und Gremien in betroffenen Pfarreien begleitet werden? Grundsätzlich stellt sich außerdem die Frage, wie Kirche tatsächlich so erneuert werden kann, dass sie der Idee der Frohen Botschaft Jesu wieder sichtbarer entspricht. Als Erstes muss das unmenschliche System, in dem der Schutz der Institution so gnadenlos Vorrang vor der Lebenswirklichkeit der Menschen hatte, endgültig aufhören. Aber auch in der Bestürzung braucht es die Kunst der Differenzierung. Aus verständlichen Gründen mangelt es momentan daran. Gerechtigkeit aber ist keine Einbahnstraße.

Tief bewegt haben mich die Zeugnisse von über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirche, die sich mit enorm viel Mut öffentlich geoutet haben. Ich bin froh, dass ihnen sehr schnell Sicherheitsgarantien ihrer kirchlichen Arbeitgeber ausgesprochen wurden, obwohl sie mit diesem Outing objektiv gegen geltendes Recht verstoßen. Mit Ungeduld erwarte ich zeitnah eine Veränderung im kirchlichen Arbeitsrecht, damit Menschen nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung bzw. Identität weiterhin Angst haben müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Ja, es ist kaum zu leugnen, nicht nur einzelne Täter, auch die kirchliche Lehre kann als sehr grausam empfunden werden, sie kann Menschen ausgrenzen und regelrecht kaputt machen. Das kann nicht im Sinne Jesu sein.

Über den Synodalen Weg, an dessen Dritter Synodalversammlung ich in Frankfurt vom 3. bis 5. Februar teilnehme, hoffe ich, dass wir um der Betroffenen und aller Menschen willen in vielen weiteren Bereichen notwendige Veränderungen auf den Weg bringen. Die dort verhandelten Themen (Macht und Gewaltenteilung in der Kirche, Priesterliche Existenz heute, Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche, Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft) sind vielfältig und sprechen auch die sog. „heißen Eisen“ sehr offen an. Die Texte sind zahlreich und gut. Die Diskussionen sind bisweilen extrem zäh und anstrengend, aber ich hoffe und bin verhalten zuversichtlich, dass der gemeinsame Weg sich am Ende lohnt. Die Entwürfe sind alle zugänglich, genauso wie die Versammlungen selber per Livestream direkt mitverfolgt werden können. Ich bitte Sie, machen Sie sich möglichst Ihr eigenes Bild, statt das Projekt nur den etwa 200 Delegierten zu überlassen. Diese Kirche darf keine Kirche allein der Bischöfe und der Obrigkeit sein – es ist die Kirche Jesu Christi. Wir alle sind als Volk Gottes Teil von ihr und es gibt noch immer sehr viele großartige Menschen im Weinberg des Herrn.

In dem Bewusstsein, dass wir nicht auf die Ergebnisse des Synodalen Weges oder des weltweiten synodalen Prozesses allein warten dürfen, weil uns hier einfach die Zeit davonläuft und mit ihr die Menschen, wollen wir schon jetzt in unserem Bistum anpacken, was wir bei uns verändern und strukturell verbessern können. Mir ist klar, sich ehrenamtlich in den Pfarrgemeinden zu engagieren, ist derzeit nicht leicht. Nicht wenige von Ihnen müssen sich dafür rechtfertigen oder sogar beschimpfen lassen. Da geht es den Hauptamtlichen aber kaum besser. Von vielen Gläubigen höre ich, dass sie zutiefst enttäuscht sind von den Verantwortungsträgern – in unserer Erzdiözese, in unserer Kirche und enttäuscht vom emeritierten Papst. Die Enthüllungen bringen manches Fass zum Überlaufen, so dass selbst Hochengagierte inzwischen den Kirchenaustritt in Erwägung ziehen oder sogar fest entschlossen dazu sind. Andere – und zu denen rechne ich mich – wissen, dass wir gerade jetzt dringend gebraucht werden, um Entscheidendes verändern zu können in der Institution, an der uns aus guten Gründen doch noch etwas liegt. Ja, es muss uns ein Anliegen sein, dass die grandiose Botschaft Jesu Christi weiterhin in die Gesellschaft getragen wird, auch in künftigen Generationen. Ich möchte nicht, dass Kinder in 20, 30 Jahren von diesem Jesus Christus nichts mehr mitbekommen, weil es kaum noch kirchliches Leben gibt – keine Glaubensverkündigung, keinen Religionsunterricht, keine caritativen Einrichtungen – nur weil wir heute sagen: Wir schmeißen jetzt wegen dieser Verbrechen alles hin.

Vielleicht gelingt es uns, die Wahlen zum Pfarrgemeinderat am 20. März in diesen Kontext zu stellen. Es ist höchste Zeit, die Kirche von innen heraus umzugestalten und Weichen neu zu stellen, aber auch wirklich Bewährtes zu bewahren. Allen, die sich als Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl stellen, gebührt großer Respekt. Ich danke Ihnen auch ganz persönlich für diesen Schritt und möchte Ihnen zum Schluss schon noch ganz ehrlich sagen: Es macht trotz allem nach wie vor Freude und Spaß, in der Kirche Jesu Christi aktiv mitzumischen – künftig vielleicht sogar wieder mehr.

In geschwisterlicher und synodaler Verbundenheit
Ihr

Professor Dr. Hans Tremmel

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